Die Globalisierung führt zu einer zunehmenden Vereinheitlichung: Die Baustoffe ähneln sich, die Bauweisen ebenso und verglaste Bürohochhäuser finden sich in allen Metropolen der Welt, egal ob im globalen Norden oder Süden. Angesichts einer Vielfalt an Materialoptionen und den unterschiedlichen Klima- und Kulturzonen ist diese Entwicklung mehr als bedauerlich. Ein großer Pool an Gestaltungspotenzialen wird nicht ausgeschöpft. Und wenn wir mit offenen Augen durch unsere gebaute Umgebung spazieren, müssen wir uns doch fragen: Fühlen wir uns hier wirklich wohl?

Eigentlich wünschen wir uns doch eine gebaute Umwelt, die positiv gestaltet ist und auf den kulturellen wie klimatischen Kontext eingeht. Wir wissen doch im Grunde, was uns guttut. Zumindest würde sich keiner gegen mehr Grünflächen sträuben. Unser Wunschquartier hat reichlich Parks, Spielstraßen, Straßen mit Läden und dem Lieblingscafé. Der Weg zur Arbeit ist per Fahrrad oder zu Fuß erreichbar. Auf Autoabgase, Lärm und schlechte Luft würden wir gerne verzichten. Das alles ist möglich, aber wieso bauen wir so nicht?

Das sind einige sichtbaren Aspekte des nachhaltigen Bauens. Hinzu kommen die spürbaren. Ohne es zu ahnen, wohnen und arbeiten wir häufig in Räumen, die mit Schadstoffen belastet sind. Damit diese keine Grenzwerte überschreiten, gibt es für Bauprodukte Gesetze und Verordnungen. Aber reicht diese „worst case“-Regelung und berücksichtigt sie in angemessenem Maße Kinder, Menschen mit Vorerkrankungen oder auch Allergiker? Bei einer ganzheitlichen Planung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, geht es um die Interaktion dieser vielen Themen und die Schaffung eines Optimums für die spezifische Bauaufgabe.

Heute die richtigen Fragen für die Zukunft stellen

Und was ist, wenn wir in die Zukunft schauen? Und uns gerade im Bausektor der großen Frage der Zeit stellen: dem Klimawandel? Sichtbar sind CO2-Emissionen nicht, spürbar werden sie immer mehr, durch wärmere Temperaturen und überhitzte Quartiere. Durch Extremwetter und neue Anforderungen an Gebäudehüllen und Heizenergie. Bauen wir so, dass unsere Gebäude zukunftsfähig sind? Klimaresilient?

Und noch viel wichtiger, können wir nicht nur klimaangepasst bauen, sondern von vorneherein so, dass der Klimawandel heute eingedämmt wird? Dass natürliche Ressourcen wie beispielsweise Sand nicht weiter verbraucht und so verarbeitet werden, dass sie am Ende auf der Deponie landen? Können wir es schaffen, dass der Gebäudesektor nicht mehr für ein Drittel aller Treibhausgasemissionen verantwortlich ist und als einer der größten Materialverbraucher dasteht? Ja, auch das geht!

Erst mit einem systematischen Klimaschutzfahrplan wird das Ziel der Klimaneutralität plan- und messbar
Erst mit einem systematischen Klimaschutzfahrplan wird das Ziel der Klimaneutralität plan- und messbar

Kriterien für jeden Prototypen

Dass all die angerissenen Themen und Fragen nicht mit einer pauschalen Antwort gelöst werden können, liegt nahe. Denn Gebäude sind keine Serienprodukte, die in Industriehallen hergestellt werden. Sie sind individuelle Prototypen für einzigartige Menschen mit individuellen Nutzungsbedürfnissen an einem bestimmten Ort mit seinen eigenen Klimabedingungen.

Um all diese Themen zu berücksichtigen, braucht es einen ganzheitlichen Blick und ein Planungsinstrument. Ein Werkzeug, das hilft, die individuellen Antworten nach bestimmten Regeln zu erarbeiten. Denn wir kennen die Herausforderungen, wir kennen Produkteigenschaften und wir wissen den Unterschied zwischen fossilen und erneuerbaren Energien und Rohstoffen.

Vor mehr als 10 Jahren haben sich Akteure aus allen Bereichen des Planen und Bauens zusammengefunden, um so ein Instrument auszuarbeiten. Entstanden ist dabei die Non-Profit-Organisation namens Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen und ein Kriterienkatalog des zukunftsfähigen Bauens: das DGNB System.

Dieses Handbuch begleitet den Planungsprozess und fügt zu den herkömmlichen Leistungsphasen Fragen und Instrumente hinzu, die dabei helfen, die wirkliche Nachhaltigkeit eines Gebäudes zu bewerten. Und es stellt sicher, dass die Qualität über die gesamte Planungs- und Bauzeit gehalten wird. Geprüft und nachjustiert wird dann nach Fertigstellung. Hat das Projekt die am Anfang definierten Nachhaltigkeitsziele objektiv und messbar erreicht? Wenn ja, erhält das Gebäude oder das Quartier eine Bestätigung: das DGNB Zertifikat.

Ganzheitlich nachhaltig – was heißt das?

Das DGNB System folgt dabei drei Grundsätzen. Der ganzheitliche Blick schließt das Gebäude über seine gesamte Nutzungszeit ein: von der Rohstoffentnahme und Herstellung der Baumaterialien, über die Errichtung und Nutzungsphase bis hin zum Rückbau des Gebäudes und die Entsorgung der Bauprodukte. Diese Betrachtung führt nicht nur zu anderen Bauweisen und Materialkatalogen, sondern ermöglicht auch eine realistische Kostenbetrachtung. Wie häufig ein Teppich erneuert oder die Gebäudehülle gepflegt werden muss, wie recyclingfähig die Baustoffe sind und damit eventuellen Deponierungskosten entgehen – all das, wird im Rahmen der Planung evaluiert.

Darüber hinaus werden alle Dimensionen der Nachhaltigkeit berücksichtigt: die Ökologie oder Umwelt, die soziokulturellen Aspekte, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen und die Ökonomie, also Wirtschaftlichkeit der Bauweise. Die bis zu 37 Kriterien teilen sich auf diese Themen auf. Hinzu kommen noch Aspekte zur technischen Lösung, zu den Gegebenheiten am Standort und zur Prozessqualität. Letzteres hat zum Ziel, dass alle an der Planung, dem Bau und dem Betrieb Beteiligten ihre Verantwortlichkeiten kennen – gute Gebäude entstehen im Gemeinschaftswerk.

Nur wenn all diese Bereiche gleichermaßen berücksichtigt werden, kann ein Gebäude seine Qualität erreichen. Der dritte Grundsatz des Systems ist deshalb, dass nicht einzelne Kriterien bearbeitet werden, sondern in allen Bereichen eine Mindestpunktzahl erreicht werden muss. Natürlich bedingt diese Sichtweise Zielkonflikte. Soll ich etwas mehr in die Konstruktion investieren um dafür einen effizienteren Betrieb zu haben? Kann ich auf ein Material verzichten und meinen Komfort etwas zurückschrauben? Doch genau darin liegt ja das Potenzial des Planers, ein optimales Gebäude zu liefern, das im Einklang mit Menschen und Umwelt steht, auf die individuellen Anforderungen der Nutzer und den Standort eingeht und einen positiven Beitrag leistet.

Ganzheitlich nachhaltig heißt, den gesamten Lebenszyklus von Gebäuden zu betrachten. Die DGNB bietet für jede Lebensphase einen eigenen Kriterienkatalog und Zertifikat an.

„Wie wird ein Gebäude klimaneutral und was heißt das überhaupt?“

Dass es heute noch ein freiwilliges Mehrtun braucht, um die angesprochene positive Umwelt zu schaffen, zeigt sich an einer der Ausgangsfragen: wie wird ein Gebäude klimaneutral und was heißt das überhaupt? Europa will der erste klimaneutrale Kontinent werden. Und Deutschland möchte den Gebäudebestand bis 2050 in die Klimaneutralität führen. Allerdings wurde bisher nicht genau definiert, was damit genau gemeint ist und wie das geht.

Um hier konkret ins Handeln zu kommen, hat die DGNB gemeinsam mit ihren Mitgliedern und unter Einbeziehung eines hochkarätig besetzten Wissenschaftlichen Beirats eine Definition erarbeitet. Diese beruht auf der ehrlichen und ganzheitlichen Betrachtung aller Emissionen - inklusive dem Stromverbrauch in der Nutzung - und setzt die Grundstücksgrenze als Systemgrenze fest. Demnach muss ein Gebäude so viel erneuerbare und damit CO2-freie Energie produzieren, dass der Eigenbedarf gedeckt wird und darüber hinaus Energie ins Stromnetz exportiert wird. Werden damit mehr CO2-Emissionen eingespart als verbraucht, ist das Gebäude nicht nur klimaneutral, sondern klimapositiv. Benötigt wird also das Instrument der CO2-Bilanzierung.

Der Weg dahin gelingt mit einem individuellen, auf das Gebäude ausgerichteten Klimaschutzfahrplan. Hierzu wird ein Zieljahr der Klimaneutralität bzw. Klimapositivität gesetzt und Handlungsfelder identifiziert und zeitlich entsprechend eingeplant. Das kann im ersten Schritt die Optimierung des Energieverbrauchs durch effiziente IT-Systeme sein, danach die Sanierung der Gebäudehülle und am Ende die Installation von Photovoltaikanlagen. Entscheidend für die Berechnung von CO2-Emissionen ist es, die realen Verbrauchswerte des Gebäudes zu kennen.

Betrachtet man nun konsequent den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes, so fließen die CO2-Emissionen der Konstruktion – also der Herstellung der Baumaterialien, ihre Nutzung und ihre Entsorgung – in die Rechnung mit ein. Je geringer diese ausfallen, desto schneller werden diese im Betrieb kompensiert.

Diese Denkweise rückt Baustoffe mit niedrigem Energieaufwand in der Herstellung in den Fokus und sie plädiert fast immer dafür, Bestandsgebäude mit den darin gebundenen CO2-Emissionen zu erhalten und die verbauten Ressourcen wertzuschätzen. Denn alles, was nicht neu gebaut wird, spart Energie und Ressourcen. Die Denkweise fördert aber auch das Bauen mit nachwachsenden Rohstoffen wie Holz – ein Baustoff, der erneuerbar ist und sogar CO2 speichert.

Doch auch beim aktuellen Holztrend fordert der konsequent ganzheitliche Blick, alle relevanten Fragen zu stellen: wo kommt das Holz her? Kann es genutzt werden, ohne dass schädliche Beschichtungen benutzt werden und eignet sich der Baustoff an diesem Ort? Und kann es am Ende wiederverwendet werden? Das DGNB System führt durch all diese Fragen durch.

Alle Dimensionen der Nachhaltigkeit werden beim nachhaltigen Bauen nach DGNB gleichermaßen berücksichtigt.

Fazit: Fragen zulassen und Hilfe annehmen

Bauen ist komplex – ob nachhaltig oder nicht. Noch ist der ganzheitlich nachhaltige Blick keine Normalität – und was anders ist, scheint komplizierter. Noch sind die anfangs gestellten Fragen keine gesetzliche Pflicht. Aber wir spüren die Auswirkungen auf unsere Gesundheit, der Klimawandel ist längst da und die Biodiversität – und damit unsere Lebensgrundlage – schwindet, wenn wir so weiterbauen wie bisher. Je früher wir uns aber den Fragen stellen, desto mehr Gestaltungsfreiheit bleibt uns. Und das ist die positive Nachricht: Die Lösungswege sind da, das Wissen auch. Was wir brauchen ist eine klare Haltung für eine bessere gebaute Umwelt und die konsequente Umsetzung.